Dem Erinnern ein Gesicht geben

Wie an die Shoa gedacht wird, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt

Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau (c) Jugendkirche in Mönchengladbach
Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau
Datum:
Sa. 31. Jan. 2015
Von:
Garnet Manecke
Vergangenen Dienstag jährte sich die Befreiung der Gefangenen des Konzentrationslagers Auschwitz zum 70. Mal. Zu diesem Anlass gibt es zahlreiche Gedenkveranstaltungen. Gleichzeitig protestieren in Großstädten wieder tausende Menschen gegen „Überfremdung“.

Eine Spurensuche, wie sich das Gedenken verändert und welche Bedeutung das Andenken an die Opfer für die Zukunft hat.

Die Worte von Leah Floh sind alarmierend und sie erschüttern. „Wir fühlen uns nicht mehr sicher. Wir erleben täglich Beleidigungen, Erniedrigungen und erhalten Hass-Mails“, sagte die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Mönchengladbach bei der Gedenkveranstaltung an die Opfer der Pogromnacht im November. „Viele von uns sitzen auf gepackten Koffern.“ Die Woche für Woche in Großstädten wie Düsseldorf, Dresden oder Leipzig stattfindenden Pegida-Demonstrationen mit rechten, ausländerfeindlichen und antisemitischen Parolen erinnern fatal an die Aufmärsche in den 1930er Jahren.

Aber etwas ist anders: In Gegendemonstrationen, interreligiösen Begegnungen formiert sich Widerstand gegen den Rechtsruck. Das Gedenken an den Holocaust trägt dazu bei, den Widerstand gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aufrecht zu halten. Es ist die Basis dafür. Das wurde auch beim Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 70 Jahren in der Citykirche Aachen deutlich.„Wir sind dankbar, dass so viele Überlebende die Last auf sich genommen haben, uns von ihren Erlebnissen zu erzählen“, sagte Sylvia Engels, evangelische Pfarrerin der City-Pastoral, bei ihrer Begrüßung. „Ihre Erzählungen sind das lebendige Gesicht der Erinnerung.“ Die Berichte der Zeitzeugen ermöglichten es, sich für die Ressentiments  gegen Juden, Muslime, Ausländer oder Flüchtlinge zu sensibilisieren. Gemeinsam mit dem KFD-Diözesanverband Aachen und dem KFD-Regionalverband
Aachen-Stadt hatte die Ökumenische City-Seelsorge eingeladen. Unter dem Titel „Ihr sollt die Wahrheit erben – Die Cellistin von Auschwitz“ lasen die Organisatorinnen aus dem gleichnamigen Buch von Anita Lasker-Wallfisch, eine Überlebende des Mädchenorchesters in Auschwitz. Lasker-Wallfisch berichtet in ihrem Buch, wie ihre Eltern deportiert wurden, wie sie als 17-Jährige mit ihrer 18-jährigen Schwester später von der Gestapo verhaftet und mit einem Gefangenen-Transport nach Auschwitz gebracht wurde. Weil sie Cello spielen konnte, wurde sie Mitglied im Mädchenorchester des Konzentrationslagers.
Für sie und ihre Schwester die Chance, zu überleben.

Noch heute besucht die inzwischen 90-Jährige Schulklassen, um über den Holocaust zu berichten. „Es ist meine Aufgabe, quasi die Stimme der Menschen zu
sein, die heute nicht mehr sprechen können“, sagte Lasker-Wallfisch in einem Radio- Interview. Solche Begegnungen mit Zeitzeugen sind vor allem für die Generationen wichtig, die lange nach dem Krieg geboren wurden. „Für Jugendliche ist das Geschehen sehr weit weg“, sagt Christoph Rütten,  Gemeindereferent der Jugendkirche in Mönchengladbach (JIM). Allerdings mache die intensive Beschäftigung mit der Historie die Shoa auch für die dritte
Nachkriegsgeneration lebendig.

Rütten hat das beim Besuch der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau mit einer Jugendgruppe erlebt. „Dort war ihnen die Geschichte ganz nah und fühlbar“, beschreibt er die Situation. „Die Jugendlichen haben dort verstanden, was es heißt, zwar nicht für die Vergangenheit verantwortlich zu sein. Aber dafür, dass so etwas in Zukunft nicht mehr passiert.“ Zum Gedenken an die Befreiung der KZ-Häftlinge haben sie in der Jugendkirche einen Vortragsabend ausgerichtet, an dem sie über ihre Eindrücke berichteten.

Auch die Scham, vom Tätervolk abzustammen, haben die Jugendlichen gespürt. „Bei unserem Besuch kam eine Gruppe jüdischer Jugendlicher an uns vorbei“, berichtet Rütten. „Unsere Jugendlichen wurden ganz stumm. Sie wollten nicht als Deutsche erkannt werden.“ Aber weil Schweigen auf Dauer keine Lösung ist, haben die Jugendlichen beschlossen, die „anderen“ kennenzulernen. Für den Herbst ist eine Begegnung mit einer jüdischen Jugendgruppe geplant.

„Man muss aus der Geschichte lernen, nicht nur aus der deutschen, sondern auch aus der jüdischen“, formulierte es Anita Lasker-Wallfisch in einem Radio-Interview. Nach ihrer Befreiung ist Lasker-Wallfisch zusammen mit ihrer Schwester nach London gegangen. „Ich habe mir geschworen, nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen“, schrieb sie in ihrem Buch. Auch wollte sie nie wieder ein Wort Deutsch sprechen. Diesen Vorsatz habe sie so lange gehalten, bis sie nicht mehr in Gefahr gekommen sei, den Mördern ihrer Eltern zu begegnen. „Ich spreche viel an Schulen und habe viele Briefe von  Schülern“, sagte Lasker-Wallfisch. „Es ist jetzt eine ganz andere Kultur hier.“

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird auch in Zukunft wichtig sein. Besonders dann, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt. Auf die Frage, ob die Welt irgendetwas aus den Verbrechen des 20. Jahrhunderts gelernt habe, antwortete Lasker-Wallfisch: „Leider bin ich weniger optimistisch. Was ich als besonders schlimm empfinde, dass wieder dieser latente Antisemitismus seinen Kopf herausstreckt.“

Veranstaltungen wie die in der Citykirche St. Nikolaus in Aachen oder der Jugendkirche in Mönchengladbach halten die Erinnerung an die Opfer der NS-Schergen lebendig. Die Auseinandersetzung und das Kennenlernen der anderen aber ersetzen sie nicht. Interreligiöse und -kulturelle Begegnungen können Vorurteilen vorbeugen. Veranstaltungen wie die Jüdischen Kulturtage im Rheinland, an denen sich auch Aachen und Mönchengladbach beteiligen, sind dabei ein Beitrag. Sie machen Unbekanntes erleb- und fühlbar. Nur so kann undefinierten Ängsten die Grundlage entzogen werden, bevor sie zu rechten Parolen werden. Das gilt insbesondere für die Zukunft.